Lampenfieber, Versagensängste, Unerfahrenheit, Blackouts – die Theaterwelt hält viele Albträume bereit, große und kleine – und unzählige Anekdoten und Dramen kreisen darum. Die weitverbreitete Hoffnung: mit den Jahren wächst die Erfahrung, die Ängste schwinden, und irgendwann erreicht man das Stadium, wo man alles schon einmal so oder so ähnlich erlebt hat. Nichts und niemand kann einen noch kalt erwischen, nichts mehr kann einen überraschen. Glücklicherweise ist das ein Irrtum.
Das Regensburger Theater hatte die Aufgabe übernommen, das Siegerstück des Internationalen Dramenwettbewerbs TALKING ABOUT BORDERS zur Uraufführung zu bringen. Im Vorjahr war der Wettbewerb in den drei baltischen Staaten ausgerichtet worden, und der sehr junge aus Estland stammende Autor Karl Koppelmaa konnte die Jury mit seinem Stück DIE STEIGERUNG DES GLÜCKS überzeugen. Der erste Preis beinhaltete neben dem Preisgeld die Übersetzung seines Stücks ins Deutsche und eben die Uraufführung am Regensburger Theater.
Das Stück handelt von Europa in einer fiktiven Zukunft. 30 Jahre nach Ende des 3. Weltkriegs erzählen fünf Figuren ihr Leben und schildern, jeder aus seiner persönlichen Perspektive, einen zerrissenen, von kulturellen, religiösen und politischen Differenzen gequälten Kontinent. Formal sind es fünf Monologe, die ineinander verflochten sind. Zunächst versteht man sehr wenig, dann ergeben sich mehr und mehr Bezüge zwischen den Figuren. Die Machart des Textes war mir sehr fremd. Monologe, aber nicht wirklich, da sie sich teilweise im schnellen Wechsel ins Wort fielen. Textfläche, aber nicht frei als Steinbruch zu benutzen wie oft bei Jelinek, da man die zeitliche Abfolge der einzelnen biografischen Stationen nicht beschädigen konnte, ohne völliges Unverständnis beim Zuschauer zu riskieren. Keine Situation, keine Dialoge, keine stringent erzählte Geschichte – das Gegenteil von dem, was mein Herz normalerweise höher schlagen lässt. Ich hatte verständlicherweise alles versucht, die Regie in jüngere Hände zu geben, jemanden damit zu betrauen, der (oder die) mit Performancetechniken vertrauter war als ich. Aber die Dinge entwickelten sich anders, und schließlich stand mein Name auf dem Besetzungszettel.
Die Proben gestalteten sich schwierig, alle Beteiligten hatten Schwierigkeiten mit dem Stück. Europa und Krieg? Die Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit als Mit-Ursache für einen 3. Weltkrieg? Darf man das sagen auf einer Bühne? Oftmals Ratlosigkeit auf den Proben, und große Schwierigkeiten mit der osteuropäischen Gedankenwelt. Ein unverhoffter Neuzugang in der Besetzung bringt einen frischen Blick, wir probieren viel Neues, ohne allerdings die Skepsis zu verlieren. In den dunkelsten Momenten macht sich eine Stimmung breit von „Wir müssen diesem schwachen Text eben irgendwie auf die Welt helfen…“. Dann, eine Woche vor der Premiere, die öffentliche Probe. Samstag Vormittag, ein voll besetztes Haidplatz-Theater. Oh Gott, wo kommen die alle her? Vom Einkaufen, vom Frühstück? Jedenfalls aufgekratzt und neugierig. Unsere Dramaturgin und ich erzählen ein bißchen über das Stück und den Dramenwettbewerb, dann räumen wir die Bühne und die Schauspieler spielen einen Ausschnitt aus unserem Stück. Sie sind gut, konzentriert und spielfreudig. Danach ist die Welt eine andere. Die Überraschung ist da! Die Zuschauer sind fasziniert und begeistert! Die Akteure auf der Bühne blicken in aufmerksame, interessierte Gesichter, drehen auf und entdecken ganz neue Facetten in ihren Texten. Bei der anschließenden Diskussion äußern sich die Zuschauer begeistert, sie sind gepackt von den Themen Europa, Krieg und Zukunft. Die Spieler nehmen dieses Erlebnis mit in die Endproben, spielen wie ausgewechselt, selbstbewußt, überzeugt von der Relevanz des Erzählten. Nicht nur die Premiere (in Anwesenheit der estländischen Kulturbotschafterin), die ganze Aufführungsserie wird ein großer Erfolg, auch die Kritiker sind angetan – so kann es gehen.